Dienstag, 24. März 2015

Nachlassverwaltung wohin? 1 Arnold Sandhaus

Vorbemerkung

rt. - Arnold Sandhaus geht in seiner nachfolgenden
Betrachtung zum aktuellen Umgang mit dem Nachlass
Rudolf Steiners u.a. auf einen Aufsatz des derzeitigen
Archivleiters, David Marc Hoffmann ein, den dieser
unter dem Titel «Rudolf Steiners Hadesfahrt und
Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Individualismus,
Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum
zur Anthroposophie» veröffentlicht hat.4
Dieser Aufsatz vermag Denkanstösse zu geben.
Zunächst ist festzuhalten, unter welcher Perspektive
Hoffmann arbeitet: er behandelt als Objekt einen von
Rudolf Steiner ausdrücklich verworfenen Bruch in
dessen Biographie und trägt dokumentarisch
umfassendes und inhaltlich weit verstreutes Material
dafür zusammen. Es geht ihm um Dokumentation, um
Zeugnisse und Belegstellen. Dieses Material untersucht
er ausschliesslich anhand der philologisch-quellenkritischen
Methode5 und präzisiert sein Methodenver-ständnis dahingehend, «die dargestellten Sachverhaltewahrzunehmen und rein ”materiell” zu sichten und zu
verstehen, bevor sie diskutiert, anerkannt oder
verworfen werden.»6
Man sollte das genau nehmen: Es geht zunächst um das
Verständnis des blossen Materials. Die darin sich aussprechenden
Sachverhalte werden weder diskutiert,
noch anerkannt oder verworfen – dies ist einem zweiten
Schritt vorbehalten. Der erste Schritt ist in dem Aufsatz
breit besprochen, der zweite weniger oder auch gar
nicht, je nach Perspektive, die man dazu einnimmt.
Sicher ist eines: die Methode der geschichtlichen Symptomatologie
Rudolf Steiners und alles was sie zu Diskussion,
Anerkennung oder Verwerfung beitragen könnte,
bleibt vollständig aussen vor. Es besteht eine künstliche
Immunisierung der philologisch-quellenkritischen
Methode gegenüber anderen wissenschaftlichen Disziplinen
die historische Forschung betreffend, etwa die von
Rudolf Steiner entwickelte methodische Anwendung
der Begriffe Wesen und Erscheinung7, Arnold Sandhaus
bringt einen Hinweis auf die damit verbundene Thematik.
Die Philologiekritik Rudolf Steiners ist komplett
weggelassen. Auch etwa das Wesen der historisch literarischen
Forschung wie sie Rudolf Steiner in einem
Gespräch mit Walter Johannes Stein erläuterte, – man
darf solche mündlichen Überlieferungen prüfen! –
bleibt unberücksichtigt: «Die historischen Gedanken
sind versuchsweise gedachte Gedanken. Man muss die
geistige Wesenswelt bitten, dass sie dieselben beseelt.
Dann korrigieren sie sich, dann werden sie im Laufe
der Zeit Wahrheit.»8 Der quellenkritische Forscher steht
gegenüber einer solchen Forderung vor einem Abgrund
der Freiheit und er springt – nicht.
Damit ist der Horizont skizziert, in welchen David
Marc Hoffmann seinen Aufsatz hineinstellt: es ist
methodisch der klassisch-akademische oder materialistisch-
wissenschaftliche Standpunkt, der jede Berührung
mit dem methodischen Werkzeug der Anthroposophie,
bzw. der Erkenntniswissenschaft Rudolf Steiners vermeidet.
Diesen selbstgesteckten Rahmen besteht er
ausgezeichnet. Man erhält ein faktenbasiertes, sehr
umsichtig und weit umfassend zusammengetragenes
Bild einer in Rudolf Steiners Biographie bei einigen
wenigen Persönlichkeiten umstrittenen Phase und
daraus sich ergebende Angebote möglicher Schlussfolgerungen. Diese sind wertneutral gemeint, wenngleich äusserst pointiert vorgebracht (vgl. dazu Sandhaus
unten) – was sich auf dem Hintergrund des ganz
sachgemäss fehlenden Bezugs zu Rudolf Steiners
Weiterentwicklung der klassisch-akademischen Forschungsmethoden
weil er diese in ihren Konsequenzen
ernst nimmt jedoch von selbst relativiert.
Das ist nur insofern überraschend, als einerseits die
Bescheidenheit besteht, und die ist vollumfänglich anerkennenswert,
sich mit seinen eigenen Fähigkeiten auf
dasjenige zu beschränken, was man kann. Dass man
jedoch andererseits nicht dazu aufruft, als Verantwortlicher
für die Publikationsformen dieses Nachlasses,
alle erreichbaren Fähigkeitspotentiale zu versammeln,
die zu einer Anwendung des methodischen Werkzeugs
der Anthroposophie, der Erkenntniswissenschaft Rudolf
Steiners auf die Werkherausgabe führen könnten – und
damit die auch heute sehr gut verständliche Anweisung
Marie Steiners, das Werk Rudolf Steiners «nach Möglichkeit
und bestem Wissen und Gewissen in dessen
Sinn» herauszugeben, das lässt – nachfragen. Und lässt
das Nachfragen berechtigt erscheinen.
Es braucht einer künftigen Stiftung anstelle des
bisherigen Vereins für den Nachlass Rudolf Steiners in
keiner Richtung ein Verhalten unterstellt zu werden,
dass sie nicht im Sinne Marie Steiners handeln wird.
Der noch bestehende Verein hätte jetzt noch jederzeit
die Möglichkeit, ein entschiedenes und verbindliches
Signal in diese Richtung abzugeben. Insbesondere wie
künftig, nach Wegfall der Wahrnehmung dieser
Funktion durch die Vereinsmitglieder, die Kontrolle der
Anwendung der Intentionen Marie Steiners gedacht ist.
Nach den Erfahrungen mit einer künstlich (s. oben),
bzw. einseitig auf philologische Quellenritik usw.
beschränkten Herausgabe entsteht nun die Frage einer
Herausgabe von Rudolf Steiners Werk unter Einbezug
der entsprechenden methodischen Fundamente der
Anthroposophie. Es ist dem engagierten Beitrag von
Arnold Sandhaus zu wünschen, dass er nach Geist und
Sinn und nicht nach dem Buchstaben gelesen wird und
dass ebenso engagiert versucht wird, seine Position –
pro und contra – zumindest experimentell einmal
durchzuspielen.


 Nachlassverwaltung wohin?
Die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung hat sich auf eine
bestimmte Spur begeben, die namentlich seit der Anstellung
David Hoffmanns im Herbst 2012 als Archivleiter
sichtbar wird. Diese Spur führte in kürzester Zeit zum Entstehen,
bzw. zur dankbaren Aufnahme der "Steiner Kritische
Ausgabe", zusammengestellt von Christian Clement,
der in den USA im Schosse der mormonischen Kirche arbeitet.
Es wird hier und da schon von einer "Kritischen
Gesamtausgabe" gesprochen9.
Hoffmann hat sich in Interviews und eigenen Beiträgen
deutlich zu seinem Arbeitsmotiv geäussert: die Herausgabe
von Steiners Werken soll künftig von Nicht-
Anthroposophen
gemacht werden, denn nur so liessen
sich allerhand "binnen-anthroposophische" Subjektivitäten
vermeiden.10 Im Mittelpunkt steht der "wissenschaftliche"
Anspruch. Genau in diesem Moment tritt,
wie gerufen und wie ein Deus ex Machina, Christian
Clement mit seinem SKA-Projekt in Erscheinung und
dies wird dankbar von Hoffmann aufgegriffen. Ein
"Glücksfall
" wie Jens Heisterkamp es nannte. Jetzt,
kaum zwei Jahre später, sitzt Clement schon so fest im
Sattel, dass er sich zu einem Beitrag von Iris-Astrid
Kern, zur Frage der "Wissenschaftlichkeit", erschienen
in «Ein Nachrichtenblatt»11, folgendes zu sagen erlaubt:

"Wenn von Seiten der Anthroposophie ein solcher Unfug als ernsthafter Beitrag zu einer Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie bzw. das Verhältnis der Anthroposophie zu den übrigen Wissenschaften in die Öffentlichkeit gestellt wird, und wenn dem nicht von Anthroposophen, die wissen wovon sie reden,nachdrücklich entgegengetreten wird, steht die anthroposophische Stimme in der Gefahr, im zunehmend sichentfaltenden akademischen Diskurs um Rudolf Steiner irrelevant zu werden. (...) In der Wissenschaft ist es seitlangem üblich, die Qualität von Publikationen durch ein System der peer-review12 zu sichern. Vielleicht wäre das ja eine gute Idee auch für anthroposophische Publikationsorgane wie das Nachrichtenblatt."13
So schnell kann es gehen.

Nach bestem Wissen und Gewissen
Im Übereignungsvertrag Marie Steiners und im Protokoll
der Gründungsversammlung der Rudolf Steiner
Nachlassverwaltung ist niedergelegt, was die Pflichten
der Vereinsmitglieder sind:
 
         „Die Mitglieder des Vereins der Nachlass-Verwaltunghaben darüber zu wachen,                dass die Herausgabe des Werkes von Rudolf Steiner nach Möglichkeit und                       bestem Wissen und Gewissen in dessen Sinn erfolgt.“ 
Wenn Archivleitung und Vorstand die Vereinsziele aus
den Augen verlieren, haben die Mitglieder die Möglichkeit
und Pflicht, korrigierend einzugreifen. Notfalls
haben die Mitglieder den Vorstand zu erneuern. Dem
Verein gehören ungefähr 25 Persönlichkeiten an, denen
der Vorstand und, indirekt, die Archivleitung Rechenschaft
schuldig sind. Mit dem Nachlassverein schuf
Marie Steiner ein Organ, dessen Mitglieder über die Tätigkeit
der Nachlassverwaltung wachen sollen und deren
Kurs mitgestalten können.
Dieses Einflussnehmen und Mitgestalten soll nun verunmöglicht
werden. Es sind im Verein Rudolf Steiner
Nachlassverwaltung seit ca. zwei Jahren Vorarbeiten im
Gange mit dem Ziel, diesen Verein in eine Stiftung
überzuführen. Wenn die Mitglieder des Vereins dem
zustimmen, dann wäre der Stiftungsrat nur noch sich
selber, also nicht mehr einer Mitgliedschaft, Rechenschaft
schuldig und würde sich durch Kooptation selber
ergänzen. Damit wäre jeglicher Einflussnahme auf den
Kurs der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung ein Ende
gesetzt. Nun sollen die Mitglieder bereits in November
2014 darüber prinzipiell abgestimmt haben.14 Nachfrage
ergab, dass die Sache, wegen kostspieliger und zeitraubender
Bedingungen seitens der Behörden aber noch
nicht in Kraft getreten sei. Dies könne noch einige Monate
dauern; bis dahin gilt noch die bestehende Rechtsform.
 Dem Werk Steiners zur fruchtbaren Wirksamkeit verhelfen

Stellen Sie sich vor: das Leben hat Ihnen eine Position
geschenkt, dank derer Sie sich vollzeit und verantwortungsvoll
mit dem Werke Rudolf Steiners befassen dür-fen, und diese Position ist auch noch gut-bezahlt. Man würde sagen ein Traumjob: man kann seinen anthroposophischen
Idealen nachgehen, die Originalschriften Steiners in den Händen halten, Ausgaben vorbereiten usw.
Versucht nun der neue Archivleiter die Impulse Rudolf
Steiners zur Wirksamkeit zu bringen? Sind ihm dabei
die Worte Rudolf Steiners «Wir wissen, dass in verhältnismässig
kurzer Zeit das Menschengeschlecht verlieren
müsste alle Sicherheit, alle innere Ruhe, allen zum
Leben notwendigen Frieden, wenn die Verkündigung,
die wir als Anthroposophie bezeichnen, nicht eben zu
dieser Menschheit gerade in unserem Zeitalter kommen
würde» (GA 134, 1er Vortrag) zum Leitfaden geworden?
Nein, David Hoffmann hat einen anderen Leitfaden:
«Rudolf Steiner war ein wichtiger Zeitgenosse der
Jahrhundertwende. Er gehört in die Reihe der Philosophen,
Schriftsteller, Lebensreformer vom Anfang des
20. Jahrhunderts wie Max Weber, Husserl, Freud und
Jung, Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salome,
Oswald Spengler.» (Basler Zeitung, Interview mit David
Marc Hoffmann am 18. 8. 2012 ). Steiner soll eingereiht
werden, und dazu soll er erst einmal normal
menschlich werden, mit seinen Fehlern, Schönredereien
und dergleichen. Motiv: "Er war einer von uns", nicht
schlechter, aber auch nicht unbedingt besser - etwa Augenhöhe.
Statt gerade als Archivleiter, wie man in seiner
Arglosigkeit erwarten könnte, Steiners Einzigartigkeit
zu betonen, ja alles daran zu setzen, dieser zu Anerkennung
zu verhelfen, setzt Hoffmann gerade auf das
Gegenteil.
Ein Teil dieses Strebens besteht darin zu beweisen -
wissenschaftlich versteht sich - dass sich im Leben
Steiners ein merkwürdiger Bruch befindet. Hoffmanns
Aufsatz, «Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis
» ist dieser Aufgabe gewidmet.15 Steiner soll vor
1900 sogar "antichristlich" gewesen sein. Ja, der "frühere
Steiner", würde nicht einmal gut geheissen haben,
was der "spätere Steiner" vorgebracht hat. Es würde
sich mit der Philosophie der Freiheit nicht vertragen:
«Es ist keine Frage, dass inhaltlich der frühe Steiner
den späteren als blossen Metaphysiker vehement abgelehnt
haben würde: Wovon die Theosophie und Anthroposophie
sprechen, diese Inhalte hätten dem früheren
Steiner als bloss erschlossene Begriffe ohne Erfah-rungsinhalte erscheinen müssen. Von Erkenntnis als Resultat der Vereinigung von äusserer Wahrnehmung
und denkerischem Begriff hätte hier für den früheren
Steiner keine Rede sein können. Die Erkenntnistheorie
der Philosophie der Freiheit geht hier keine Kompromisse
ein.»
Laut Hoffmann würde Steiner in "Mein Lebensgang"
dennoch "eifrig beteuern" (man beachte die Wortwahl)
dass er seine Anschauungen und Positionen im Laufe
seines Lebens nicht verändert habe. Aber Hoffmann
nimmt ihm das nicht ab.
 Antichristlich ?
Nun fragt man sich, wie es möglich ist, die «Philosophie
der Freiheit» zu lesen und nicht zu bemerken, dass
darin ein rein christlicher Wind weht? Muss man erst
auf das Wort "christlich" stossen, bevor man es merkt?
Müsste ich nun an Hand einiger Zitate glaubwürdig machen
oder gar "beweisen", dass hier von einem durch
und durch christlichen Herangehen die Rede ist? Man
ERLEBT es, oder eben nicht, am ganzen Duktus des
Buches. Man SPÜRT es, oder eben nicht, in der Weise,
wie Steiner einen ihm fremden Gedanken aufgreift, wie
er das Wesentliche darin sucht, ihn nie schroff abweist,
aber ihn immer verstehen will, in sich aufnimmt, darauf
eingeht, und allmählich zu einer Charakterisierung
kommt. Erst danach wägt er ab, ob dieser Gedanke uns
auf den Weg zur Freiheit bringt oder gerade nicht. Die
ganze Gestik ist ein liebevolles, auf die Wahrheit gerichtetes
Eintauchen in das Denken des anderen, wobei
der andere voll in seinem Wesen respektiert wird. Das
macht das Lesen dieses Buches gerade so schwer, weil
man als Leser all diese Arbeit mitmachen und dabei
manches in sich selbst überwinden und schulen muss.
Aber so gelangt man allmählich zu der Einsicht, oder
besser gesagt: erlebt man immer stärker, worin die
Freiheit des Menschen liegt und wie man danach streben
kann. Diese Freiheit bekommt nur Realitätsgehalt -
und Wert für die Welt - , wenn sie im tiefsten Individuellen
gefunden werden kann.
Aber ja, es ist dennoch möglich, dass man diesen rein
christlichen Impuls nicht bemerkt. Nämlich wenn das
Organ dazu fehlt und man nur auf Worte und Inhalte
starrt, und das Wesentliche zwischen und hinter den
Worten einfach nicht wahrnimmt. So verstrickt Hoffmann
sich in einer Problematik, indem er versucht, das
"Unchristliche" bei dem "früheren" Steiner zu beweisen.
16 Er zieht Zitate heran, zieht Nietzsche heran - denn er bleibt argwöhnisch gegenüber Steiners Begeisterung für Nietzsche - , wittert "eklatante inhaltliche Widersprüche"
und beweist sogar, dass Steiner (zwar indirekt),
Jesus Christus als kranken Instinkt bezeichnet hätte.
In der Vorrede zur Neuauflage der Philosophie der
Freiheit, heisst es, der Inhalt sei "im wesentlichen fast
ganz unverändert" wieder veröffentlicht und nur ein
Übelwollender könne sich veranlasst finden zu sagen, er
habe seine Grundüberzeugung geändert. 
 Mein Lebensgang

Der soeben beschriebenen Gestik Steiners begegnet
man wieder in "Mein Lebensgang". Jetzt sind es die
vielen, vielen Begegnungen, die uns durch Steiners Lebensgang
führen und die, neben seiner innerlichen Entwicklung,
das Wesentliche dieses Lebensgangs auszumachen
scheinen.
Aber Hoffmann kann sich dafür nicht begeistern: er
würde dem Buch gerne einen Wert anerkennen, wenn er
es nur als "historisches Dokument" betrachten könnte,
aber eben das ist ihm nicht möglich. Die "Hermeneutik"
verbietet ihm dies; so kann er darin nur sehen, wie Steiner
sich hinterher zu rechtfertigen versucht.
Man würde sich wünschen, selber so viele intensive
Begegnungen im Leben gehabt zu haben und sie dann
so liebevoll beschreiben zu können. Oder hat man sie
gehabt, es aber nicht bemerkt und erlebt jetzt den Impuls,
dies nachzuholen und alle Begegnungen noch
einmal gedanklich vor sich hinzustellen? Und wo doch
jeder Mensch sich danach sehnt, gesehen und verstanden
zu werden: wie muss es gewesen sein von einem
Menschen wie Rudolf Steiner gesehen worden zu sein?
Und man empfindet selbst den Ansporn, sich seine
Mitmenschen nochmal von neuem anzuschauen.
Unabhängig davon, ob er jemandes Lebenshaltung teilt
oder abweist, widmet Rudolf Steiner jeder Menschenbegegnung
eine Skizzierung, ohne zu kränken, aber auch ohne zu schonen. Der Lebensgang erscheint als Gang durch und mit all diesen persönlichen Begegnungen,
als hätte Rudolf Steiner sich so in das allgemeine
Menschentum inkarniert. Wie in der Philosophie der
Freiheit ist es das rein Menschliche, das den Leser berühren
will.
Aber Hoffmann wird nicht berührt und kann sich nicht
begeistern; er ist dagegen überrascht, «mit welcher
Selbstverständlichkeit Steiner davon ausgeht, mit seinem
Werk Mein Lebensgang (1923-25) "manches schiefe Urteil über den Zusammenhang meines Lebens [...]
durch eine objektive Beschreibung in das rechte Licht"
rücken zu können»17. Als würde es für Steiner die hermeneutischen
Gesetze einfach nicht geben! Und Hoffmann
deutet auf "die überraschend häufigen und eifrigen
Beteuerungen", womit Steiner hinweist auf die
Kontinuität seiner Ansichten, die Hoffmann aber gerade
anzweifelt.
Dass das Buch als "historisches Dokument" für die Zeit,
über die Steiner spricht, wertlos sei, erläutert Hoffmann
an zwei Beispielen, zwei - da war ich überrascht - winzig
anmutende, wacklige Beispiele. Wegen möglicher
"Gedächtnislücken" oder "Schönrederei" fällt für Hoffmann
die ganze Glaubwürdigkeit Steiners in Bezug auf
die Frage nach dem "Bruch" in seiner Biographie weg.
Beim ersten Beispiel geht es um einen Vortrag, dem
Steiner im Titel nachdrücklich "Eine Anthroposophie"
hinzugefügt hat. Jedenfalls behauptet Steiner das.
Hoffmann hat dafür aber keinen schriftlichen Beleg gefunden!
Also, Gedächtnislücke bei Steiner? Beim zweiten
Problem geht es um Steiners Haltung zu Nietzsche:
Versucht Steiner seine "vorbehaltlose Begeisterung"
nachträglich zu verharmlosen? Dann hat er aber nicht
mit Hoffmann gerechnet, denn: «...für ein irgendwie
geartetes vollbewusstes und taktisches Untertauchen in
fremde Geistesströmungen oder gar In-die-Haut-
Schlüpfen zwecks Überwindung des Drachens gibt es
keinerlei direkte historische Belege.»18 Inzwischen frage
ich mich, ob ich ohne Geburtsakte noch beweisen
könnte, dass ich überhaupt geboren bin.
 Staunen und Richten

Dabei fängt Hoffmanns Aufsatz so hoffnungsvoll an:
«Methode. Am Anfang steht - wie so oft - das Staunen...
» Staunen als methodischer Anfang! Das wäre
aber vollkommen in Übereinstimmung mit dem von
Steiner beschriebenen, stufenweise aufgebauten Denkweg
um zur wahren Wirklichkeit vorzudringen. Das
Staunen wird dabei als Anfang alles menschlichen Forschens,
als notwendiges Samenkorn des Wissens beschrieben.
Dann geht es bei Steiner aber weiter «... Und
weiter. Das genügt noch nicht. Wenn das Denken nun
urständet im Staunen und der Mensch gerade durch
sein Karma veranlagt ist, recht scharfsinnig zu werden,
und er durch einen gewissen Hochmut sehr bald dazu
kommt, sich selber zu erfreuen an seinem Scharfsinn
und dann nur noch den Scharfsinn entwickelt, dann hilft
ihm auch das anfängliche Staunen nichts».19 Jede Stufe
soll genügend lange durchgehalten werden; die nun
folgende Stufe ist die der Ehrfurcht...
Nach dem ersten Satz ist Hoffmanns Staunen schon zu
Ende und er verwickelt sich bereits in philologische Finessen:
«Jedem unvoreingenommenen Blick auf Rudolf
Steiners Leben und Werk muss sich die Frage des
Übergangs oder Wandels um die Jahrhundertwende von
1900 stellen. Wie kann der ursprüngliche Monist plötzlich
einen "Dualismus" lehren? Oder ist die Anthroposophie
gar kein Dualismus? Oder war die Position vor
der Jahrhundertwende gar kein Monismus? Wie ist ein
derart spirituelles, esoterisches Wirken und Lehren
möglich nach solch anarchistischer Freigeisterei?»
Staunen? Unvoreingenommener Blick? Viel wichtiger
ist ihm doch die Hermeneutik: «Es ist eine hermeneutische
Grundregel, dass jeder Interpret unmittelbar zum
betrachteten Werk steht und nicht dem Autor in seiner
Selbstdeutung verpflichtet ist. Kein Autor kann gegenüber
seinen Interpreten eine legitime Deutungshoheit
über sein eigenes Werk beanspruchen. Der Autor ist
Anwalt seiner eigenen Sache.»
Mit dem Ausdruck "Anwalt seiner eigenen Sache" liefert
Hoffmann uns den Schlüssel zum Verständnis seiner
Herangehensweise. Das Ganze ist für ihn gewissermassen
eine Gerichtsverhandlung und dabei kann man
als Richter - und diese Rolle spielt er bescheidenerweise
selbst - nicht einfach annehmen, was der Verdächtige
zu seiner Verteidigung anführt. Steiner scheint ihm als
Mensch tatsächlich verdächtig vorzukommen und er
bemüht sich regelrecht, ihn zu überführen mit vereinzelten
Zitaten und schriftlichen "Fakten". Denn Hoffmann
stützt sich prinzipiell nur auf Geschriebenes, auf sein
Dossier.
 Überheblichkeit und Unverbindlichkeit als Arbeitsmethode

Das bringt uns zum Thema Hochmut und falsche
Selbsteinschätzung (fehlende Selbsterkenntnis), wobei
ich versuchen möchte zu zeigen, dass diese beide Eigenschaften
"systembedingt" sind.
Auch ich staunte, wunderte mich, ja, war überrascht,
dass gerade der Leiter des Rudolf Steiner Archivs, statt
Steiner gegen beflissene Argumente und voreilige
Schlüsse zu schützen (aber Hoffmann wird gerade dies
als "binnen-anthroposophisches" Bestreben abweisen),
selbst nachdrücklich die Möglichkeit anbietet, Steiner
als Scharlatan zu sehen.20 Und man fragt sich, würde
der Leiter eines Nietzsche-Archivs auch in solch überheblicher
Art über Nietzsche sprechen? Ja, tatsächlich,
das tut er, denn auch da ist Hoffmann Archivleiter.
Das Dogma der Wissenschaft ist die OBJEKTIVITÄT,
aber Objektivität in einer ganz bestimmten Weise aufgefasst,
und zwar so, dass man sich prinzipiell ausserhalb
der Sache aufstellt. Man achtet darauf, ein von
aussen Wahrnehmender zu bleiben. Jede persönliche
Verbindung zum Objekt soll vermieden werden, sonst
ist man als Wissenschaftler nicht mehr glaubwürdig.
Diese Haltung, die gerne als Stärke präsentiert wird,
stellt sich aber bei näherer Betrachtung als Schwäche
heraus. Unbewusst geht es nämlich um die Angst, nicht
mehr loszukommen von etwas, womit man sich verbunden
hat. Man meint, eine Verbindung könne nur in
Sympathie begründet sein. Und wer Sympathie für sein
Objekt empfindet könne nicht mehr objektiv sein und
darf nicht mehr mitreden. Man kann sich aber sehr wohl
mit etwas verbinden ohne dabei von persönlicher Sympathie
geleitet zu sein, und genau dazu ermutigt Steiner
den wissenschaftlichen Untersucher.
 Kraft des Ich
Sich verbinden aus Sympathie fordert keine Anstrengung,
sich zurückziehen in Antipathie ebenso wenig.
Man kann aber einen willentlichen Wechsel differenzierter
Verhältnisse zum Objekt üben. Das Ausführen
unterschiedlicher Denkbewegungen im Verhältnis zum
Objekt, wie es Steiner vorstellt, ermöglicht ein viel tieferes
Wahrnehmen als die "objektive" sich-selbstausschaltende
Methode. Es fordert aber eine geduldige
Arbeit, und zwar an sich selbst; man betrachtet eben
nicht nur das Objekt, sondern zu gleicher Zeit kritisch
die eigene Denkbewegung, sich selbst als Untersuchender.
Kurz, es ist die Rede von der Entwicklung des Ich,
von der Selbstschulung.
Dies alles geht dem traditionellen Wissenschaftler zu
weit. Eine mögliche Selbstentwicklung, die auch noch
eine wichtige Rolle spielen sollte bei wissenschaftlichen
Ergebnissen! Das kann er nicht anerkennen. Auch wenn
er ahnen würde dass etwas "dran" ist, würde er vor den
Konsequenzen zurückschrecken. So nimmt er lieber ein
schwaches Ich als Voraussetzung, indem er jede persönliche
Verbindung zum Objekt ohne weiteres als Voreingenommenheit
disqualifiziert. Es geht dann weiter
mit dem Einsetzen von technischen Hilfsmitteln. Und je
mehr die Maschine, oder der Computer, in eine Untersuchung
eingeschaltet werden können, desto grösser ist
das Vertrauen zu dem "objektiven" Resultat. Dieses
Vertrauen des Wissenschaftlers in seine Geräte kann
kindisch naive Formen annehmen. So meint David
Hoffmann, wir hätten dank der Digitalisierung von
Steiners Werken und die dadurch entstandene Möglichkeit
des automatisierten Suchens, einen "Wissensvorsprung"
auf Steiner. Er meint allen Ernstes, dass wir
dadurch dessen Werk eigentlich besser "kennen" können
als er. Deutlicher kann man die Weltfremdheit in
seiner merkwürdigen Verbindung mit Überheblichkeit
kaum vor Augen führen.
 Objektivität und Objektivität
Inwiefern die auf persönlicher Entwicklung beruhende
Objektivität - im Gegensatz zu der sich-selbstausschaltenden
Objektivität der traditionellen Wissenschaft
- Früchte abwirft, hängt also davon ab, wie weit
der Betreffende es bringt in seiner Selbstschulung, und
er eigene Vorlieben, Gewohnheiten und Egoismen
überwindet. Seine Entwicklung ist nämlich darauf gerichtet,
die immer mehr vom Ich geleitete Seele, zum
Wahrnehmungsorgan zu entwickeln. Statt z.B. ein Musikstück
anzuhören und, wie man das beim normalen
Musikgeniessen tut, sich den sich unwillkürlich einstellenden
Gefühlen, Bildern oder Assoziationen hinzugeben,
kann man auch mit der Seele so eintauchen, dass
man das Wesen dieser Komposition sucht. Das erstere
sagt mehr über was in mir lebt, beim zweiten suche ich
was in der Musik selbst lebt. Wie das Ohr ohne eigene
Interpretation mitschwingt mit dem Laut und dadurch
hört was IST, so kann die Seele mitschwingen mit der
Musik und wahrnehmen was IST. Man muss also unterscheiden
lernen was aus einem selbst kommt und was
aus der Musik. Diese Arbeitsweise lässt sich natürlich
auf jedes Gebiet übertragen.
So sagen die "philologisch-quellenkritisch" orientierten
Studien in Realität mehr aus über den betreffenden Forscher
als über sein Objekt. Zu sehr ist er voreingenommen,
zu sehr will er etwas Bestimmtes finden um über
sein Objekt ein Urteil zu fällen, statt dass er das Wesen
selbst sprechen hören will. Eine Untersuchung könnte
z.B. nie zu dem Ergebnis führen, dass das Objekt (hier
Rudolf Steiner) grösser und weiser wäre als sein Unter
sucher, denn der Untersucher stellt sich a priori als
Richter über ihn. Diese zur Gewohnheit gewordene Gesinnung
nährt einen Hochmut der ein solches Ergebnis
gar nicht ertragen könnte. So wird jeder, der diese sichere
Position anzutasten versucht, schroff als Feind
oder Dummkopf abgewiesen. Und Einladungen "zum
Gespräch" sind dann auch in Wirklichkeit die Aufforderung
die akademische Betrachtungsweise anzuerkennen
und sich darin zu fügen (peer-review). Und so schafft
man sich eine sichere, abgeschirmte Welt worin man
handelt, ohne Verantwortung tragen zu müssen, da diese
Verantwortung von der "wissenschaftliche Objektivität"
übernommen wird. Als ein Journalist einen Wissenschaftler
fragte, ob nicht die Wahl des Objekts dennoch
etwas persönliches sei, war die Antwort: "Das finde ich
aber übertrieben".
 Die Welt auf dem Kopf
Nun sieht man bei der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung,
wie bei vielen anderen anthroposophischen Institutionen
(Heilpädagogische Heime, Waldorfschulen,
Krankenhäuser usw.) auch, die Tendenz allmählich von
Aussenseitern, von "Spezialisten von Aussen" übernommen
zu werden.
Eine solche Entwicklung setzte, vor Jahrzehnten an
manchen Orten ein mit der Rolle eines Schatzmeisters
dessen einzige Verbindung mit der Anthroposophie ein
Kind an der Waldorfschule war. Da Buchhaltung und
das Finanzielle überhaupt für viele eine undurchschaubare
und abstossende Welt ist, wurde dem Schatzmeister
einerseits immer mehr Macht zugeschoben, andererseits
wurde es ihm leicht gemacht sie an sich zu ziehen.
Wo er eigentlich derjenige sein sollte der die finanziellen
Information verständlich einbringt, damit der dazu
geeigneter Kreis zu Entscheidungen kommen kann,
wurde er immer mehr zum Selbstentscheider. Es folgten
die Manager, die Berater, erfolgreiche Aussenseiter,
von deren praktisch orientierter Organisationskenntnis
man "profitieren" könne. Es ist inzwischen öffentlich
bekannt, wie Manager (nein, nicht Binnen-
Anthroposophen) mehrere Institutionen z.B. in den
Niederlanden zu Grunde gerichtet haben. Ich weiss dass
viele Leser diese Prozesse aus eigenem Erleben kennen.
Eine Mischung von Hilflosigkeit, Faulheit, Gutgläubigkeit
und schliesslich Machtlosigkeit unter den Mitarbeitern,
ermöglichen diese Prozesse. Und allmählich schlittert
man in einen Strom, der unaufhaltsam von der
Anthroposophie wegführt. Es hat sich mittlerweile so
oft abgespielt, dass man heutzutage solche Prozesse zeitig
erkennen sollte.
Und nun sollen sich "Aussen-Anthroposophen" um Rudolf
Steiners Nachlass kümmern, zum Heil der anthroposophischen
Sache versteht sich, von der sie behaupten,
sie würde ihnen am Herzen liegen. Als Privatangelegenheit
wäre eine solche Gesinnung kein Problem,
aber in massgebender Position innerhalb der Rudolf
Steiner Nachlassverwaltung wird es schon zum Problem.
Fachspezialisten (von aussen) können natürlich wertvoll
eingesetzt werden, aber nicht für die wirklich anthroposophische
Arbeit, nicht für Entscheidungen. Wichtig ist,
dass man diesen Spezialisten sehr deutliche Grenzen
setzt, denn aus ihrer Natur heraus streben sie immer danach,
diese Grenzen weiter zu verschieben. Es ist die
Umgebung die es zulässt, daran mitarbeitet, oder eben
Grenzen setzt. Während der am 20.9.2014 vom AVS
organisierte Tagung «Wie gehen wir mit dem Werk
Rudolf Steiners um?» wurde klar, dass die Vorstandsmitglieder
der Nachlassverwaltung, ohne den ersten
SKA-Band von Christian Clement selbst gelesen zu haben,
sich in ihrem Entschluss zur Zusammenarbeit mit
Clement, ausschliesslich auf das Urteil von David
Hoffmann verlassen haben.
 Kurswechsel im Nachlassverein?
Was könnte denn Schlimmes passieren wenn man sich
zu einem Kurswechsel entschliessen sollte? Eine mögliche
Scheu sich damit zu blamieren würde jedenfalls in
keinen Verhältnis stehen zu dem, was auf dem Spiel
steht. Man sollte sich aber keinen Illusionen hingeben:
ohne sehr deutliche Stellungnahme lässt sich auf diesem
Gebiet absolut nichts ändern. Dafür sind die "spezialisierten
wissenschaftlichen" Kräfte zu stark von sich
überzeugt. Die einzige Kraft die man dem entgegenstellen
kann, ist die individuelle, aus der Anthroposophie
geborene, ehrliche Überzeugung.
Noch sind die Mitglieder des Nachlassvereins berechtigt
Einfluss zu nehmen auf den Kurs der Nachlassverwaltung.
Noch haben sie die Pflicht UND die Möglichkeit
darüber zu wachen, "dass die Herausgabe des Werkes
von Rudolf Steiner nach Möglichkeit und bestem Wissen
und Gewissen in dessen Sinn erfolgt".
 Arnold Sandhaus, März 2015

Der frühe Steiner – nur äussere Wahrnehmung

David Marc Hoffmann:
«Es ist keine Frage, dass inhaltlich der frühe Steiner
den späteren als blossen Metaphysiker vehement abgelehnt
haben würde: Wovon die Theosophie und Anthroposophie
sprechen, diese Inhalte hätten dem früheren
Steiner als bloss erschlossene Begriffe ohne Erfahrungsinhalte
erscheinen müssen. Von Erkenntnis als
Resultat der Vereinigung von äusserer Wahrnehmung
und denkerischem Begriff hätte hier für den früheren
Steiner keine Rede sein können. Die Erkenntnistheorie
der Philosophie der Freiheit geht hier keine Kompromisse
ein.»21
rt. - David Marc Hoffmann beschränkt hier den Begriff
der Wahrnehmung auf “äussere” Wahrnehmung und
lässt “inhaltlich” begrifflich undefiniert. Dadurch
gewinnt er die Möglichkeit, den Begriff der Inhalte der
Theospohie und Anthroposophie als “ohne
Erfahrungsinhalte” aufzufassen, er sei “metaphysisch”,
bzw. “bloss erschlossen”. Damit hätte der frühe Steiner
den späteren Steiner abgelehnt. Als Belegstelle wird die
Philosophie der Freiheit angeführt, die jedoch das
Gegenteil dieser Auffassung entwickelt. Hier wird der
Philologe einwenden, dass das nachfolgende Zitat in
der ersten Auflage jener Schrift nicht enthalten war und
daher für eine Analyse der “prospektiven”, also aus
Steiners Früh-Perspektive geblickt, nicht geltend
gemacht werden könne. Das ist richtig. Richtiger ist
aber, dass Rudolf Steiner hier auf den Text vor und
nach diesem Neuzusatz der zweiten Auflage als
Belegstellen hinweist, also ebensosehr auf den Text der
ersten Auflage. Eine schöne Aufgabe für den
Philologen, diese Belegstellen in der Erstauflage zu
finden! Mit der oben zitierten Begründung lässt sich ein
“Bruch” in Rudolf Steiners Biographie nicht aussagen.
Wertvoll ist die Begründung dennoch: sie macht wieder
einmal auf das Problem aufmerksam, dass die
Hellsichtigen auf die tätig erarbeitete begriffliche
Durchdringung ihrer geistigen Wahrnehmungen nicht
verzichten können, wenn sie wissenschaftlich sein
wollen (genau dieser Anspruch aber wird von manchen
erhoben) und dass die materialistischen Anthroposophie-
Wissenschaftler bei Rudolf Steiners Erkenntniswissenschaft
– auch der frühen –, von geistigen
Wahrnehmungen nicht absehen können.
 Der frühe Steiner – äussere und geistige Wahrnehmung

Rudolf Steiner:
«Bedacht sollte auch werden, dass die Idee von der
Wahrnehmung, wie sie in dieser Schrift entwickelt
wird, nicht verwechselt werden darf mit derjenigen von
äusserer Sinneswahrnehmung, die nur ein Spezialfall
von ihr ist. Man wird aus dem schon Vorangehenden,
aber noch mehr aus dem später Ausgeführten ersehen,
dass hier alles sinnlich und geistig an den Menschen
Herantretende als Wahrnehmung aufgefasst wird, bevor
es von dem tätig erarbeiteten Begriff erfasst ist. Um
Wahrnehmungen seelischer oder geistiger Art zu haben,
sind nicht Sinne von gewöhnlich gemeinter Art nötig.
Man könnte sagen, solche Erweiterung des üblichen
Sprachgebrauches sei unstatthaft. Allein sie ist
unbedingt notwendig, wenn man sich nicht auf
gewissen Gebieten eben durch den Sprachgebrauch in
der Erkenntniserweiterung fesseln lassen will. Wer von
Wahrnehmung nur im Sinne von sinnlicher Wahrnehmung
spricht, der kommt auch über diese sinnliche
Wahrnehmung nicht zu einem für die Erkenntnis
brauchbaren Begriff. Man muss manchmal einen
Begriff erweitern, damit er auf einem engeren Gebiete
seinen ihm angemessenen Sinn erhält.»22
 Philologen sind potentiell hellsichtig

«Verzeihen Sie einen etwas groben Vergleich: Wenn eine
Perle am Wege liegt und ein Huhn findet sie, so schätzt
das Huhn die Perle nicht besonders. Solche Hühner sind
die modernen Menschen zumeist. Sie schätzen die Perle,
die ganz offen daliegt, gar nicht, sie schätzen etwas ganz
anderes, sie schätzen nämlich ihre Vorstellungen. Niemand
könnte abstrakt denken, wirkliche Gedanken und
Ideen haben, wenn er nicht hellsichtig wäre, denn in den
gewöhnlichen Gedanken und Ideen ist die Perle der Hellsichtigkeit
von allem Anfange an. Diese Gedanken und
Ideen entstehen genau durch denselben Prozess der Seele,
durch den die höchsten Kräfte entstehen. Und es ist ungeheuer
wichtig, dass man zunächst verstehen lernt, dass der
Anfang der Hellsichtigkeit etwas ganz Alltägliches eigentlich
ist: man muss nur die übersinnliche Natur der Begriffe
und Ideen erfassen. … - Das, was ich jetzt ausgesprochen
habe, habe ich schon vor vielen Jahren ausgesprochen,
ausgesprochen in aller Öffentlichkeit, nämlich in meinen
Büchern «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philosophie
der Freiheit», wo ich gezeigt habe, dass die menschlichen
Ideen aus übersinnlichem, geistigem Erkennen kommen.
Man hat es dazumal nicht verstanden; das ist ja auch kein
Wunder, denn diejenigen, die es hätten verstehen sollen,
die gehörten, nun ja, halt zu den Hühnern.»23
 
Hellseher können sehen, jedoch nicht unterscheiden

«Einen Menschen, der in die geistige Welt zu schauen
vermag, nennt man in der Esoterik einen «Hellseher».
Aber nur Hellseher sein, ist nicht genug. Ein solcher
könnte wohl sehen, aber nicht unterscheiden. Derjenige,
welcher sich die Fähigkeit erworben hat, die Wesen und
Vorgänge der höheren Welten zu unterscheiden
voneinander, wird ein «Eingeweihter» genannt. Die
Einweihung bringt die Möglichkeit, zu unterscheiden
zwischen den verschiedenen Arten von Wesenheiten. Es
kann also jemand hellsehend sein für die höheren Welten,
braucht aber kein Eingeweihter zu sein. ... Daher sollte in
aller esoterischen Schulung darauf Rücksicht genommen
werden, dass immer zu der Fähigkeit der Hellsichtigkeit
hinzuerworben werde die Einweihung.»24


4 in: R. Uhlenhoff, Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Berliner
Wissenschafts-Verlag, Berlin 2011.
5 Seite 90
6 Seite 116
7 Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften,
Dornach4 1987, S.274
8 Walter Johannes Stein / Rudolf Steiner, Dokumentation eines wegweisenden
9 z.B. Justus Wittich, Herausgeber des "Goetheanum", in einem Schreiben an
mich vom 18. Februar 2015
10 Siehe u.a. Basler Zeitung, Interview mit David Marc Hoffmann am 18. 8.
2012. "Die Anthroposophen pflegen das geistige Erbe. Und das Archiv soll
möglichst ohne weltanschauliche Interessen Steiners Nachlass verwalten. Ich
bin da besonders sensibilisiert, weil ich meine Doktorarbeit über das Nietzsche-
Archiv geschrieben habe. Nietzsches Schwester hat dessen Nachlass
tendenziös verfälscht. Sie ist der Prototyp für eine ideologisch geprägte
Nachlassverwaltung." Dieser Vergleich ist vielsagend.
11 "Ein Nachrichtenblatt", 8. März 2015, Nr. 5
12 Peer-review. Inhaltliche Prüfung, ob ein Artikel in der eingereichten Form
veröffentlicht, zur Überarbeitung an den Autor zurückgeschickt oder endgültig
abgelehnt werden sollte. In katholischen, bzw. jesuitischen Kreisen gibt
es ein ähnliches Verfahren, wobei ein Zensor sein "Nihil Obstat" (Druckerlaubnis)
erteilt oder eben nicht. Möglicherweise ist diese Vorgehensweise
auch an den mormonischen Universitäten üblich.
13 Facebookseite des "Rudolf Steiner: Schriften - Kritische Ausgabe", 7.
März 2015.
14 Schreiben des "Rudolf Steiner Archiv" vom Dezember 2014
15 D.M. Hoffmann, «Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis.
Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und
Antichristentum zur Anthroposophie» in: R. Uhlenhoff, Anthroposophie in
Geschichte und Gegenwart, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2011.
16 Wie Fussnote 14
17 Wie Fussnote 14, S. 90 und 111.
18 Siehe Fussnote 14
19 Rudolf Steiner, Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes. GA134. 1.
Vortrag. "Nach dem Zustand des Staunens muss der Zustand der Verehrung,
der Ehrfurcht kommen. Und ein jegliches Denken, das sich emanzipiert von
der Ehrfurcht, von dem ehrfürchtigen Aufschauen zu dem, was sich dem
Denken darbietet, das wird nicht in die Wirklichkeit hineindringen können..."
Überhaupt ist dieser Vortrag wie zugeschnitten auf die hier beschriebene
Situation.
20 Wie Fussnote 14, S.114 und 116
21 D.M. Hoffmann, «Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis.
Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und
Antichristentum zur Anthroposophie» in: R. Uhlenhoff, Anthroposophie in
Geschichte und Gegenwart, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2011.
22 Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit – Grundzüge einer modernen
Weltanschauung, seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher
Methode, GA 4, Dornach16 1995, S.132, 133
23 Rudolf Steiner, Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita, GA 146,
Dornach4 1992, S.35
24 Rudolf Steiner, Die Geistige Führung des Menschen und der Menschheit -
Geisteswissenschaftliche Ergebnisse über die Menschheits-Entwickelung,
GA 15, Dornach10 1987, S.55, 56

Quelle:
E i n N a c h r i c h t e n b l a t t
22. März, 2015 | 5. Jahrgang, Nr. 6
RT = Roland Tüscher,

anderes Artikel

deel 2 zie hier

eber Hadesfahrt Steiners in ein ganz anderes Perspektiv , empfehelenswert naechstes Buch:
September 1900. Das "Gestanden-Haben vor dem Mysterium von Golgatha" im Lebensgang Rudolf Steiners - Malte Diekmann

Bevor Rudolf Steiner sein Wirken als großer Geisteslehrer unserer Zeit beginnen konnte, mußte er in innerster geistiger Anteilnahme vor dem Mysterium von Tod und Auferstehung Christi zur Zeitenwende gestanden haben. Umstände und Hintergründe der Christus-Begegnung sind Thema dieser Schrift. Erstmals wird darin auch eine genauere zeitliche Einordnung gegeben - ein wichtiger Baustein für das Verständnis der inneren Entwicklung und der Lebensaufgabe Rudolf Steiners.

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